703 Seiten, 28 €, dtv
Ich gestehe, dass ich unter dem Titel „Villa Sternbald“ ein anderes Genre erwartet habe, einen dieser unterhaltsamen, heiteren Familienromane. Dabei hätten mich schon der literarische Ruf der Autorin und der Untertitel eines Besseren belehren können. Es handelt sich um eine ernsthafte, großartig geschriebene Familiengeschichte, die über mehrere Generationen bis in die Kaiserzeit zurückführt. Protagonist und Ich-Erzähler ist Nikolas, Sohn einer Nürnberger Fabrikantenfamilie, die mit der Entwicklung und dem Verkauf von Schulmöbeln reich geworden ist. Nikolas, das „schwarzes Schaf“ der Familie, kehrt anlässlich des 103. Geburtstages des Patriarchen Henry nach langer Abwesenheit in das Familienanwesen, die Villa Sternbald, zurück. Während seines Aufenthalts, den er immer länger ausdehnt, erforscht er die Geschichte seiner Familie bis ins Jahr 1886, zur Erfindung der Columba-Schulbank durch seinen Ururgrossvater Ferry. Er findet heraus, dass sie ihren finanziellen Erfolg auch dem Umstand verdankt, dass sie in den 1930er Jahren ein jüdisches Unternehmen unrechtmäßig übernommen hat. Gleichzeitig taucht Nikolas immer wieder in Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend ein, in der auch eine Jugendliebe eine Rolle spielt. Neben der Familiengeschichte enthält der Roman eine Fülle literarischer Assoziationen und philosophischer Gedanken, wie über das Verstreichen der Zeit, das Wesen und die Unschärfe von Erinnerungen, Wahrheit und Lüge, Erziehungsstile im Wandel, Glaube und Religion oder Antisemitismus .
Ein anspruchsvolles, vielschichtiges Buch, für das man Zeit braucht. Das seinen Lesern am Ende aber wesentlich mehr gibt als ein heiterer Familienroman.